In meiner Familie herrschte oft Verzweiflung und Chaos.
Griechischen Tragödienhelden gleich irrten wir durch von den Schicksalsgöttinnen vorbestimmte Gefühlslabyrinthe. Wir begingen absichtslos verletzende Taten, die immer neue Verirrungen hervorbrachten. Wir schrien und weinten uns durch unsere Lebensfährnisse.
Doch immer wieder gab es helle Zeiten, durchwirkt von Zuversicht und Freude, ein Frohsinn lenkte dann die Handlungen und erstaunlicherweise hatten wir als gebeutelte Familie immer wieder auch die naive Kraft, an eine gute Zukunft zu glauben, in unsere eigenen Fähigkeiten zu vertrauen.
Der Waschtag war immer so ein lichter Moment, reinigend in jeder Hinsicht.
Ich habe die alten, fast archaischen Abläufe in der Waschküche im Hof unserer alten Wohnung am Handelskai für das Februar Jeux fixes schon beschrieben und welchen Zauber sie bewirkten: die Verrichtung einer zwar mühevollen Arbeit, die aber durch und durch sinnstiftend und freudig für uns Kinder gemeinsam mit der Mutter war.
Eine ähnlich beglückende Erinnerung habe ich an die Zeiten, an denen mein Vater sich aus eigenem Antrieb nach Phasen des ausufernden Trinkens eine Enthaltsamkeits- und Fastenkur verordnete.
Er teilte sich die Essensrationen wieder genau ein (darin war er als Insulinpflichtiger Diabetiker schon lange geschult) und richtete sich jedes Mahl für die Augen so appetitanregend und geschmackvoll zurecht als wäre es ein frugales Festmahl:
Es gab immer eine riesige Schüssel Salat mit Kernöldressing, duftend nach Knoblauch und frischen Kräutern, auf einem Schneidebrett arrangierte er ein in zwei Hälften geschnittenes hartes Ei mit Salz und Pfeffer drauf, ein oder zwei dünne Scheiben mageren Schinkens, zwei Tomaten geviertelt, einen grünen Paprika in feine Ringel geschnitten, dünn geschnittene Radieschen Scheiben, frischen Kren, ein kleines Stück mageren Käse, eine Scheibe Knäckebrot und recht viel Topfen in einer extra Schüssel.
Da sich mein Vater dieses Potpourri ganz genau bemessen hatte nach Broteinheiten und Kalorien, durften wir Kinder davon nichts kosten und umso mehr lief uns das Wasser im Mund zusammen und umso größer war der Genuss, wenn wir dann doch immer eine Kostprobe von irgendetwas erbettelten.
Er schmunzelte in sich hinein, er war fröhlich und wusste sich am richtigen Weg.
Am Tisch stand perlendes Sodawasser und manchmal auch ein Glas Buttermilch.
Meine Mutter und wir Kinder lobten meinen Vater in lachend-zwitscherndem Tonfall, der Frühling brach an in unserem Wohnzimmer und draußen!
„Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühen!“, sangen wir und tanzten um den Esstisch, „tra-là-lala, trala-lalàla, es grünt so grühün, wenn Spahaniens Blüühten blüühün!“
Und weiter tanzten wir singend durch die ganze Wohnung vom Wohnzimmer durch die Küche ins Vorzimmer, ins Kinderzimmer und wieder ins Wohnzimmer, unsere alte Wohnung war so angelegt, dass man bei Festen oder aus Übermut und Freude einfach rundherum laufen konnte.
Bis heute liebe ich Buttermilch, Topfen, harte Eier, Salat mit Kernöl und Knäckebrot.
Bis heute lösen die Erinnerungen an die Fastenzeiten und also auch die „Nüchternzeiten“ meines Vaters ein Gefühl von Genuss und gleichzeitig Freude an Struktur in mir aus:
er sitzt und schenkt das perlende Sodawasser in sein Henkelglas ein und es klingt, als wäre es eine Kraftsprudelnde Quelle direkt aus dem Felsen zu uns, er mischt den Salat mit dem riesigen silbernen Salatbesteck und es duftet nach Kräutergarten, er pfeffert die Eier und den Käse mit der Pfeffermühle, auch das ist eine magische, Geschmack und Würze herbeizaubernde Handlung.
Und bei alldem das Schmunzeln und Lächeln in seinem Gesicht.
Mein Vater ist wieder Herr über sein Leben und wir mit ihm gerettet, wieder einmal.