Meine Gefühle wie eine Partitur strukturieren

von Bruni Sand

Andante espressivo – leicht, etwas rasch, aber leicht

wir tanzen am Kopfsteinpflaster,
zählen den Takt,
lang-lang-kurz-kurz-laaang-laaang,
schwebend sollte es sein,
irgendwann dann,
nach einigen Monaten Tanzschule,
am Fleischmarkt,
wir stolpern dahin,
Schwedenplatz mit schwarzglänzendem Asphalt,
wir Gymnasiasten
immer auf der Heimfahrt haben wir
noch den Foxtrott im Ohr,
klamm waren sie, die Hände
des ungelenken Tanzpartners
im Saal, grell,
aber jetzt sind wir ja im Freien,
im Straßenlampenlicht,
wir hüpfen im nachhallenden Takt,
sidestep, Drehung, Ferse, Spitze,
schleifen, und wenn wir einander ganz kurz
nicht auf die Zehen steigen,
sind wir überschwänglich,
lachen, lachen,
nächste Straßenbahn vorbeifahren lassen,
die Wangen heiß,
die Novembernacht kalt,
wir spüren es nicht…

Allegro non troppo – etwas rasch, aber zart, dann mit Ausdruck

Balleröffnung, kristallklare Luster, weicher Samtteppich,
nach dem Walzer auf dem Parkett sich plötzlich allein wiederfinden,
stehen gelassen, es sind wieder die Wangen,
die brennen, diesmal vor Scham,
ich ahne, ich begreife,
das war die späte Revanche,
ich bin nackt,
eins-zwei-drei, eins-zwei-drei
dreht sich die Ballgesellschaft weiter,
um mich herum totale, rasende Fröhlichkeit,
ich suche den Weg hinaus,
ich könnte jetzt ganz hoch, also einen überaus hohen
Klageton anstimmen, ein viergestrichenes C,
das verstärkt die Verletzung,
die Kameliendame in ihrem bloßgestellt Sein,
torkeln, taumeln, singen dabei,
das ist jetzt la Traviata,
immer dieser Gefühlsüberschuss,
das Pedal halten, den Triller im tiefen Register,
anschwellen und hinsinken!
Ich tue, als wäre nichts geschehen,
ich gehe wie zufällig durch die Tanzpaare,
wie nebenher mich umschauend,
ich entschwinde.
Finger langsam von den Tasten heben,
mit Eleganz.

Piano, piano – mit vielen Pausen, Kopfschütteln, Ausseufzen

ich war ihr plötzlich zu nah
dabei wollte ich nur tanzen
ihr Erschrecken
die verminderte Quart
meine persönliche Mollskala
den Ton wie ein Aaaahhh singen
und atmen und dann eher ausstöhnen,
das langgezogene Stöhnen

ist das Stück jetzt aus?
kommt noch was?

die Handschuhe ausziehen
die ausgezogenen Handschuhe hinwerfen,
auf den Fauteuil, nachlässig
die Ballschuhe abstreifen,
von den Füßen schleudern
der Saum des Kleides ist schmutzig,
die Strümpfe zerrissen

Oh, wie gut der heiße Tee im Morgengrauen

Ballfrisuren sind eigentlich hässlich, denkt sie,
erst in der Auflösung bekommen sie
einen verrucht-interessanten touch,
jetzt noch eine kleine Terz, aufwärts,
mit den wunden Zehen und dann Licht ab

morgen ist auch noch ein Tag

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