Mein Nachsommer, immer schon

von Bruni Sand

Das Bild, das ich sehe: eine Kartenspielende Gesellschaft, an kleinen Tischchen sitzend, unter Bäumen, leichter Wind kommt auf, Blätter fallen langsam zu Boden.

Ich bin achtzehn Jahre alt, es ist September, der letzte Tag meiner Ferialpraxis als Kellnerin in der Meierei am Stadtpark. Ich stehe seitlich am Rande dieses Bildes, das sich mir schon in dem Augenblick des Gewahr Werdens als ewiges Standbild eingeprägt hat und zu einer meiner immer wiederkehrenden Erinnerungssequenzen wurde.

Die älteren Damen und Herren halten reglos ihre Karten in Händen, es ist ganz still, nur die Blätter fallen stetig, jede andere Bewegung scheint eingefroren.

Diese einen langen Herbst vorwegnehmende Szene leuchtet dunkel, einer Theaterszene gleich, auf irreale Weise und dadurch wurde sie mir auch so eindringlich, geradeso, als zeigte sie mir, die ich doch am Anfang meines jungen Erwachsenenlebens stand, etwas Zukünftiges und Gültiges, sie sprach förmlich zu mir: „Siehe, auch das ist eine Wahrheit, schau sie dir gut an!“

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Ich finde beim Auflösen der elterlichen Wohnung im Wäscheschrank meiner Mutter drei weiße Schürzchen und erkenne sie schnell als meine eigenen wieder, die ich 1978 in einem Geschäft für Arbeitsbekleidung gekauft hatte.

Ich hatte mir den Ferialjob als Kellnerin selbst gesucht, schnell nach der Matura, ihn in einer Zeitungsannonce gefunden und mich sofort angemeldet: „Hübners Kur Salon sucht für die Sommermonate Servierdame für den Tortenverkauf im Stadtpark, auch ungelernte Kräfte willkommen.“

Meine Schürzchen waren meine erste professionelle Arbeitsausstattung und ich hatte auch eine große schwarze Geldtasche mit vielen Fächern für die verschiedenen Geldscheine und ein Riesenfach fürs Kleingeld.

Ich war sehr dünn damals, die Masche der Schürze konnte ich schräg vorne zubinden, die Schürzchen wurden nach dem Waschen gestärkt und gebügelt und sahen supersauber und adrett aus.

Alle wollten von mir Torten kaufen:

Ich hatte ein Riesentablett, das ich bei der Tortenvitrine im Inneren des Kursalons voll beladen musste und dann begann mein Spießrutenlauf hinaus auf die übervoll besetzte Terrasse. Ich versuchte so gut ich es eben konnte, mich zwischen den dicht gestellten Jausen Tischchen durchzulavieren und hunderten Touristen meine Ware feilzubieten, in allen erdenklichen Sprachen, um möglichst viel von den verschiedenen Torten zu verkaufen.

Das bedeutete, das schwere Tablett an einer kleinen, noch von Getränken freien Ecke der Tischchen abzustellen, die Torten anzupreisen, die gewünschten Stücke vom Tablett auf den Tisch zu transferieren, das Geld abzukassieren und rechtzeitig, sobald die Tortenauswahl auf meinem Tablett nicht mehr vielfältig genug war, wieder nachzufüllen, für das Auge schön zu drapieren und wieder von vorne, hinaus in den Tumult mit dröhnendem Walzerklang aus den Lautsprechern und johlenden Gästen.

Am dritten Tag sah mich Herr Hübner sen., der Chef, ein – wie damals schon bekannt war – alter Nazi. Er rief mich mitten in meiner Tablettbalancierverzweiflung zu sich.

Er meinte aufgrund meiner Zartheit erkannt zu haben, dass ich wohl besser in der Meierei im Stadtpark aufgehoben wäre, wo die alten jüdischen Stammgäste alltäglich ihre Kartenpartien abhielten und nur mit einem “kleinen Braunen“ pro Nachmittag und einem Glas Wasser pro Stunde versorgt werden müssten.

Dort arbeitete ich dann also drei Monate lang.

Sobald ich die in die Jahre gekommenen Räumlichkeiten der Meierei betrat mit ihrem leicht abgestandenen Geruch nach alten Aschenbechern, der modrigen Luft, den vergilbten Tapeten und den von feinem Staub überzogenen Polstermöbeln, tauchte ich in eine andere Welt ein. Sie schien nur dort zu existieren, abgeschlossen vom Rest der Stadt und ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, dass es sie überhaupt noch gab.

In den ersten Wochen regnete es ununterbrochen, es wurde kaum hell und ich las in der Straßenbahn beim Weg zur und von der Arbeit passender Weise den Roman von Alfred Kubin “Die andere Seite“. Die Tage waren kühl, feucht und düster, außen wie innen.

Täglich kamen um 15.00 die Gäste, Damen und Herren fortgeschrittenen Alters, unaufdringlich elegant und sehr kultiviert in Sprache und Benehmen, nahmen in bestimmter Ordnung ihre Sitzplätze ein und begannen ihr Spiel, konzentriert und ernst, und verliehen so diesen Spielenachmittagen eine große Bedeutsamkeit.

Hin und wieder bestellte jemand eine saure Milch und ein Schnittlauchbrot, ansonsten fast nur Kaffee und Wasser. Nach einigen Stunden brachen die Gäste dann vereinzelt auf, nach und nach, und gingen ihrer Wege, nachdem sie peinlich genau bezahlt hatten und manchmal ein paar Groschen Trinkgeld am Tisch zurückgelassen hatten.

Erstaunlicherweise kam am Ende jeden Tages dann doch ein beträchtliches Trinkgeld zusammen, das ich mit dem polnischen Oberkellner teilen musste. Er verbrachte die Zeit mit unentwegtem Rauchen und sah mir abwesend zu bei meinen Gängen zwischen den Gästen und der Küche, beim Abwaschen der Aschenbecher, beim Abservieren und neu decken und so weiter und er machte keinerlei Anstalten, mir jemals behilflich zu sein. So war eben unsere Rollenaufteilung.

Nach einigen Wochen wurde das Wetter endlich sommerlicher und die Kartengesellschaft konnte im Garten der Meierei unter den alten Kastanienbäumen ihre Plätze einnehmen.

Meine Arbeitswege wurden so zwar weiter, aber ich liebte das Knirschen meiner Schritte im Kies und fühlte mich freier und ich war auch schon gewandter und souveräner in meiner Arbeit.

Der polnische Oberkellner verharrte weiterhin ungerührt in Sitz- und Rauchposition an einem etwas abseits gestellten Tisch.  Eigentlich sah er mit seinem Bart und der Hornbrille eher wie ein Schriftsteller, also wie ein Intellektueller aus. Manchmal, wenn ich etwas Zeit hatte und mich kurz zu ihm gesellte, erzählte er mir vom Abwehrkampf der Polen gegen die Nazis und seine Miene zeigte mir die geballte Verachtung für alles Deutsche und Österreichische, wir alle seien Nazis, immer noch, dann spuckte er aus. Ich verstand ihn sehr gut und gab ihm gerne mein erarbeitetes Trinkgeld, eine kleine Schuldbegleichung für die großen Untaten meiner Großeltern- und Elterngeneration, eigentlich von uns allen, ja ich fühlte mich wirklich gleichermaßen mitschuldig, bis heute natürlich und er redete mehr mit sich selbst als zu mir über den Heldenmut der tapferen Polen und wie sie ihr Land zurückeroberten und die Mörder hinauswarfen, bei all seinen Tiraden würdigte er mich nie auch nur eines Blickes.

Am Ende jeden Tages nach der Abrechnung der Tageslosung nahm er die von mir berechnete Hälfte des Trinkgeldes zu sich, zählte nach und steckte die Münzen wie beifällig in seine Hosentasche.

Die andere Person, die ich während dieser drei Monate täglich sah, war Berta, die Klofrau, eine echte Wienerin, rosige Wangen, weiße Haarlocken, frech blitzende helle Augen. Ich mochte es gerne, ein bisschen mit ihr zu tratschen, wenn ich mir die Hände wusch. Sie hielt die Toiletten äußerst sauber und duftete selbst nach Kernseife, der Sauberkeitsgeruch schlechthin.

Als wir einander ein bisschen vertrauter waren, zog sie mich zu sich und raunte mir zu: „Naja, jetzt san´s olle wieda do, zerst san,s ohghaut, während wir g´hungert ham und nocha ollas söba wieda aufbaut ham, allah, jo, und jetzt sitzens wieda do, die feinen Heaschoften und dan Koaten spühn, a Ungerechtichkeit is des.“

Ich bin dann nicht mehr so sehr gerne zu ihr gegangen, hab das WC-Gehen vermieden so gut es ging oder ich ging erst dann, wenn sie ihren Dienst schon beendet hatte.

Die drei Monate vergingen, meine ersten Arbeitsroutinen-Erfahrungen hatte ich gesammelt. Ich war in mir allein dort, eine Fremde in einer mir fremden Welt. Auch die Damen und Herren der Kartengesellschaft blieben für mich in einer unüberwindbaren Distanz, aufgrund ihrer Geschichte? Oder weil ich auch aus Gründen meiner Aufgabenzuteilung als Serviermädchen auf der anderen Seite war? „Die versiegelte Zeit“ fällt mir ein.

An meinem letzten Arbeitstag erfüllte mich doch etwas wie Wehmut, eine leise Melancholie, ich hatte mich innerlich schon verabschiedet und stand noch in mich versunken am Rande des Gastgartens, den ich so oft durchschritten hatte, niemand wollte etwas von mir.

Die Gäste blicken in ihre Karten, die Blätter beginnen zu fallen, es ist still, eine Mahnung geht von den schweigenden Menschen aus. Ich stehe am Rande des Bildes, mein Herz bebt.

P.S.: Es gab dann doch noch meinen Nachsommer.

Um das Geld, das ich in diesen drei denkwürdigen Monaten verdient hatte, konnte ich für meine kleine Studentenwohnung den ersten Teppich kaufen, der noch heute in unserem Arbeitszimmer liegt und ich war das erste Mal trampen, hinaus in die Welt, trampen mit Rudi, bis ans Meer, ins Licht, in unsere helle Zukunft!

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