Meine Eltern hatten an manchen Sonntag Nachmittagen ein fröhlich – leichtes Lebensgefühl, ganz im Gegensatz zu den meisten glücklosen, weil überfordernden Alltagszeiträumen, in denen mein Vater müde war vor oder nach der Arbeit, enttäuscht von dem, was aus seinem vorfamiliären Junggesellenleben in der weiten Welt geworden war: Geldsorgen, Kinder, Perspektivlosigkeit… sein Leben wurde zu seinem unglücklichen Schicksal! Meine Mutter versuchte all das träumerisch-naiv zu übersehen, was sich als Katastrophe langsam anbahnte. So war es meist.
Aber manchmal, unerklärlich, warum gerade dann, waren die Sonntagsnachmittage hell und klingend und ich und meine Schwester erlebten die Eltern, wie sie vielleicht vor unserer Geburt waren: ich denke, es war ein „Nachspielen“ oder „Nachstellen“ einer Verliebtheit, die sie dann offensichtlich sogar wieder echt spürten und erlebten.
Sie zogen sich elegant an, meine Mutter legte Lippenstift auf und Papa stellte den Plattenspieler an: alles war in Musik gehüllt, wir Kinder saßen auf der Couch und schauten unseren schönen Eltern beim Tanzen zu …
Elvis Presley Loving You
Aus der Zigarettendose, der edlen, durften wir den Eltern Zigaretten darbieten, ein magischer Duft stieg in unsere Nasen, so roch das Unbeschwerte und die Welt der Erwachsenen, das musste Luxus sein. Meine Mutter rauchte nie, sie liebte es, in diesen speziellen Stimmungen die Zigarette kokett zwischen den Fingern zu halten (Nägel lackiert!) und ohne zu inhalieren einer Schauspielerin gleich einen Zug zu mimen … sie sah unglaublich verführerisch aus, mein Vater nannte das dann „apart“ – „Luise, meine aparte Frau!“ und sie: „Robert, wie schön wir es doch haben!“
Sie tanzten zwei, drei Lieder…
The Platters The Great Pretender
Manchmal schenkte mein Vater Martini aus der in den Mahagonischrank eingebauten Hausbar ein, wir Kinder durften jedes eine Cocktailkirsche bekommen, die er aufgespießt mit verschmitztem Lächeln und priesterlich-salbungsvollem Gesang „ ohuohuoh“ uns in die wie zum Empfang der Kommunion geöffneten Münder steckte: sie schmeckten süß, so süß, meine Erinnerung fliegt, der Holzgeruch der Bar vermischt mit feiner Alkoholnote, das angenehm weiche Leder der schmalen Sitzbank darunter, Angelika und ich sitzen darauf und staunen, die Vorhänge wehen, die Donau fließt vor unseren Fenstern, unser Nachmittags-Handelskai-Glück unerklärlich da…
Lee Hazlewood/Nancy Sinatra – These Boots Are Made For Walkin’
Ich liebte das Klacken der Stöckelschuhe meiner Mutter auf dem alten Fischgrätparkettboden und wie er an bestimmten Stellen unter den tanzenden Füßen knarrte… das Wohnzimmer war plötzlich ein Fünfuhrnachmittags – five o`clock tea – dancing floor
Zu Mittag hatte es Schnitzel mit Petersilkartoffeln, Salat und Pfirsichkompott gegeben, Axel Corti hatte schon die Welt erklärt, wir hatten seiner Stimme andachtsvoll gelauscht „der Schalldämpfer“ – DOINGGG!!!“ ich hatte meistens nichts verstanden, aber doch die Wichtigkeit und Eloquenz seiner Analysen auf meine Kinderart „gefühlt“… meine Schwester und ich waren satt und müde und halb schläfrig, halb träumerisch schauten wir uns den dann beginnenden Sunday Afternoon Film mit unseren eigenen Eltern als Hauptdarsteller an…
All das, dieser ganze vielschichtige Film ist in seiner Facettenhaftigkeit sofort wieder vor meinen Augen, in meinem Herzen … ich rette den alten Plattenspieler, die Singles, es sind dies die kostbaren Glückschätze meiner Kindheit!
Tom Jones